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Grün bis an die Spitze

Erfurt plant gerade zwei Wohntürme mit begrünten Fassaden. Sie sollen als Beispiel wirken, wie man auch die Themen innerstädtische Hitze, Feinstaub und Sauerstoffversorgung angehen könnte.

Vorzeigeprojekt „Bosco Verticale“ von Stefano Boeri in Mailand.
Vorzeigeprojekt „Bosco Verticale“ von Stefano Boeri in Mailand.

Ballungszentren, Innenstadt, Hochhäuser, Lebensqualität, all diese Schlagworte rücken beim städtischen Bauen immer mehr in den Vordergrund. Allerorten werden neue Wohn- und Baukonzepte erdacht, verworfen oder doch in der Praxis erprobt.

Derzeit rückt sich die deutsche Stadt Erfurt in den Mittelpunkt der Architektendiskussionen, und zwar mit den geplanten begrünten Fassaden bis in 60 Meter Höhe an zwei Wohntürmen, zuletzt bei einem Kongress in Berlin. Dort haben mehr als 100 Referenten aus 21 Ländern über Dach-, Fassaden- und Innenraumbegrünung sowie über Begleitthemen wie Stadtklima, Regenwasserbewirtschaftung, Nachhaltigkeit und die Zukunftsstadt gesprochen. Gerade an heißen Sommertagen und mit Blick auf den Klimawandel rücken bepflanzte Fassaden in den Fokus. Sie können helfen, die Klima- und Energiebilanz von Großstädten zu verbessern.

Fassadenbegrünung wiederentdeckt
"Architekten haben das Thema Fassaden- und Dachbegrünung für sich wiederentdeckt, weil jetzt Systeme im industriellen Angebot sind, die es so vor zwanzig, dreißig Jahren noch nicht gegeben hat. Ich war selbst überrascht, wie sehr wir mit den Ideen zu unserem Quartier den Nerv der Zeit treffen, Innenstädte grüner, nachhaltiger und lebenswerter zu gestalten", sagt Michael Reuter von der Wachsenburg Baugruppe: "Bei Gesprächen und Vorträgen mit anderen Experten wurden wir ermutigt, die Fassadenbegrünung auch für Gebäude mit deutlich mehr als fünf Geschossen unter den hiesigen klimatischen Bedingungen konsequent umzusetzen."

Projektentwickler, die Erfahrungen mit grünen Fassaden gesammelt haben, erklärten einhellig, dass die Bewirtschaftungskosten in der Praxis dann doch meist niedriger ausfielen als prognostiziert und dass auch die Pflanzen viel unempfindlicher auf Temperatur- und Windstress in der Höhe reagierten als meist angenommen.

Für den verantwortlichen Architekten Claus Worschech rückt ein Aspekt der Stadtbaukunst im wahrsten Sinne des Wortes jetzt wieder mehr in den Vordergrund: die Entsiegelung und Begrünung der Stadt. In besonders dicht bebauten und hochgradig versiegelten städtischen Zentren reicht die mitunter nur noch geringe Nachtabkühlung im Sommer nicht mehr aus, um den Hitzestau am Tag zu mildern. Denn: Dach- und Fassadenmaterialien, Steine und Beton, vor allem aber auch Asphaltbeläge speichern im Mittel rund 30 Prozent der Sonnenwärme und geben sie Stunden später wieder an die Umgebung ab.

"Mit begrünten Freiflächen, Dächern und Fassaden lassen sich die mikroklimatischen Bedingungen der Innenstädte in Zeiten hoher Temperaturen und hoher Trockenheit deutlich verbessern, von der Feinstaubbindung, CO2-Aufnahme und Sauerstoffproduktion ganz abgesehen", erklärt Worschech: "Das spürt ja bereits jeder Balkongärtner.

Messungen des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben ergeben, dass es in Innenstädten nachts bis zu sieben Grad wärmer ist als im Umland. Andere Untersuchungen in bewachsenen und kahlen Innenhöfen haben gezeigt, dass allein eine grüne Fassade bis zu fünf Grad Temperaturunterschied bedeuten kann. "Darüber hinaus haben die Wohntürme den Vorteil, insgesamt weniger Boden zu verbrauchen. So bleibt um die Häuser herum mehr Platz und Raum für Grün", erläutert Worschech.

Vorbild aus Mailand
Dass das Erfurter Quartier grüner sein soll, hat Gründe. Einerseits wollen die Errichter damit den urbanen "WirGarten", auf dessen Gelände die Wohntürme entstehen sollen, im Vertikalen fortleben lassen. Andererseits war die Fassade des mehrfach ausgezeichneten Mailänder Hochhausprojektes "Bosco Verticale" ein Ideengeber für das Prinzip einer alternativen Fassadengestaltung. In Mailand sind die Balkone mit 20.000 Sträuchern und 800 Bäumen bepflanzt, die auf den Balkonen auf einer Fläche von insgesamt 8900 Quadratmetern wachsen. Der Architekt, Stefano Boeri, plant aktuell in der chinesischen Millionenstadt Nanjing an der chinesischen Ostküste Asiens das erste Hochhaus mit einem vertikalen Wald aus mehr als 1000 Bäumen.

Die beiden Wohntürme in Erfurt sollen 45 und 60 Meter Höhe erreichen und rund 160 Wohneinheiten sowie soziale Einrichtungen beherbergen. Welche Pflanzen das gestalterische Fassadensystem aus Gliederungs- und Ordnungsmitteln strukturell ergänzen, wird derzeitig mit Spezialisten für Fassadenbegrünung geklärt.

Vorreiter war Patrick Blanc
Neu sei die Idee der grünen Fassaden laut Reuter nicht. Schon in der Bronzezeit gab es Häuser mit Grasdach, wenn auch anders motiviert. Neu ist hingegen die Möglichkeit, große Objektflächen mit speziellen Pflanzkästen zu einem senkrechten Garten umzugestalten. Zum Durchbruch hat dem Thema der französische Botaniker Patrick Blanc verholfen. Berühmte Beispiele Blancs sind eine 800 Quadratmeter große Pflanzenwand am Musée du quai Branly in Paris oder das CaixaForum in Madrid, das
15.000 Pflanzen zieren. In Berlin gibt es die Mur Végétal im Atrium des Berliner Dussmann-Hauses.

Bautechnisch muss die Fassadenbegrünung frühzeitig bedacht werden. Carola Busse, Geschäftsführerin der Wachsenburg Baugruppe: "Die Pflanzen, Substrat und Konstruktion bringen viel Gewicht auf die umlaufenden Terrassen und an die Wände. Auch die Bewässerung, Pflege und Revisionierbarkeit müssen geplant sein." Laut Klaus Schiefler, Fachplaner für Fassadenbegrünung, muss die optimale Balance zwischen Investition, nachhaltigem mikroklimatischem Nutzen, Pflegeaufwand und letztlich der dauerhaften ästhetischen Wirkung gefunden werden.